Am Wegesrand – Teil 1

Zwei Tage im Dunkeln. In der Kälte. Zwei Tage in der Gewissheit dorthin nie wieder zurück zu wollen. Eigentlich. Denn das hatte ich mir schon einmal gesagt. Und da war noch Sommer. Jetzt ist Winter und diese Stadt macht mich fertig. Grau und kalt frißt sie ihre Kinder.

Das ist natürlich Bullshit. Die Stadt frisst niemanden. Sie liegt einfach nur da. Ich selber fresse mich auf. Und eigentlich ist mir auch nicht kalt. Und doch ist da dieses Gefühl, daneben zu stehen. Ich könnte nichtmal so genau sagen, woneben. Objektiv betrachtet stehe ich gerade auf der Brücke neben einem der schönsten Mädchen, das ich je gesehen habe. Sie friert. Und lächelt nicht. Dabei wäre es auf der Brücke schlagartig einige Grad wärmer, wenn sie es täte. Das sehe ich in Ihrem Gesicht.

Sie wartet auf den Bus. Ich warte auch. Nur worauf weiß ich noch nicht. Neben mir, hinter mir, vor mir und irgendwie manchmal auch zwischen mir sind tausend Leute. Keiner schaut mich an und ich finde das gut so. Es ist nun schon eine Weile her, dass ich verstanden habe, worum es ging. Ich habe auf mein Leben gesehen und gesehen, dass es gut war.

Und jetzt stehe ich schon zum zweiten Mal in bedrohlich kurzem Abstand in diesem Jahr neben der Straße, auf der jeder läuft. Ich weiß, ich bin dort falsch. Ich weiß, ich sollte mich zu dem wartenden Mädchen stellen, sie anlächeln und in den Bus steigen. Ich würde nach Hause fahren und mich wohlfühlen. Ich will nach Hause fahren und mich wohlfühlen.

Früher dachte ich immer, dass "aufgeben" nur was mit Sport oder Spielen zu tun hat. War man nicht gut genug, gab man eben auf. Man verlor das Spiel, aber das hieß nichts. Die Erkenntnis, dass man auch viel mehr aufgeben kann, wollte hart erarbeitet werden – und tröstlich war sie auch nicht gerade. Der Bus kommt und hält geräuschvoll neben uns. Ich sehe sie einsteigen und ein Gefühl der Erleichterung huscht über ihre Gesichtszüge – Wärme.

Ich bleibe stehen, schaue auf die Lichter der Stadt und fange an, die Melodie mitzusummen, die die Autos unter meiner Brücke singen. Ihre Lichter zwischen den Geländerpfosten geben den Takt vor und sie warten darauf, dass ich mitsinge. Jeder wartet in dieser Stadt. Obwohl immer Bewegung in den Straßen ist, scheint jeder zu warten.

Mir fällt auf, wie pathetisch meine Gedanken klingen. Ich habe das Gefühl, mich selber auslachen zu müssen deswegen. Es tut weh die Mundwinkel zu einem Lachen zu verziehen. Ich belasse es mit einem gequälten Grinsen, von dem nur ich weiß, dass es eines sein soll. Pathos tut mir gut – auch diese Erkenntnis ist nicht tröstlich. Dafür weniger schmerzhaft.

Am Ende der Brücke sitzt ein Mann, von dem ich nie weiß, wohin ich ihn einordnen soll. Er sitzt einfach nur da und verkauft Honig. Bei jedem Wetter. Es ist nichtmal besonderer Honig. Er kauft ihn bei Kaiser’s gegenüber und verkauft ihn auf der Brücke weiter. Ganz normaler Honig für je einen Euro mehr als bei Kaiser’s. Ich habe das Konzept seiner Tätigkeit nie verstanden. Ich habe ihn aber auch nie gefragt, weil ich Angst habe, das Rätsel für immer zu zerstören. Ich bin komisch manchmal.

 

Fortsetzung folgt…

 

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die Geschichten, die ich in der neuen Kategorie "B/Stories" einordne, sind alle frei erfunden und fiktiv. Im Gegensatz zu allen anderen Kategorien dieses Blogs bin "ich" hier nicht notwendigerweise ich.

Abgelegt unter: Prima Texte