Für Deutschland sein – Der Versuch einer Spielbetrachtung ohne das Spiel zu betrachten

Der Sieg geht in Ordnung. Das 2:2 war ein Tor, aber was soll’s schon. Diese zwei Sätze muss ich schreiben, denn ich denke genau so. Gleichzeitig sollen sie die einzigen Sätze sein, die ich zum Spiel schreiben werde. Wer mich kennt, weiß, dass meine WM mit dem heutigen Nachmittag vorbei ist und ich mir, als leidgeprüfter England Fan, die restlichen Spiele nun völlig ohne Emotionen anschauen kann.

Nein, dieser Text ist kein reiner WM Text. Er richtet sich an all die fröhlichen Menschen, die momentan die Fanmeilen dieser Republik bevölkern. Er richtet sich an all diejenigen, die mit den schwarz-rot-goldenen Farben auf der Wange momentan wieder dieses Gefühl der Freude empfinden, was ich seit Jahren bei „meinen“ Engländern vergeblich suche. Er ist für alle die Menschen, die jetzt was von Revanche für Wembley reden, weil sie es nicht besser wissen. All diejenigen, die immer noch das Gerede von der Turniermannschaft glauben.

Seht Ihr, es ist so: Ich gönne Euch all die Freude und all den Jubel aus vollem Herzen. Diese deutsche Mannschaft macht auch mir Spaß und wenn es nicht gerade gegen England ist, gönne ich ihr jeden Sieg. Und ihr dürft auch ohne Probleme heute nacht bis halb vier vor meinem Fenster feiern und Autokorsos fahren, denn schließlich ist all das doch, warum wir 90 Minuten (plus x) vor den Fernsehern sitzen, in die Stadien pilgern und beten und fluchen.

Doch was ich Euch auf den Weg geben möchte ist die Bitte, all diese Freude und die Erinnerung an den Jubel über das wunderschöne Doppelpack Müllers im heutigen Spiel nicht zu vergessen. Macht es nicht so wie in all den Jahren bei jeder EM und WM zuvor und tragt diese Erinnerung weiter durch den Sommer. Denn dann haben wir alle etwas davon. Ihr, die Ihr „für Deutschland seid“ und wir, diese seltsame Spezies namens Fußballfans.

Es ist doch so, liebe Sinologiestudentinnen im 14.Semester: Die zweijährliche Bemalung Eurer lieblichen Wangen und der Besuch von „Public Viewing Spots“, weil doch der Schweini so niedlich aussieht, machen Euch nicht zu Fußballfans. Sie machen Euch zu Sinologiestudentinnen, die für Deutschland sind. Und das ist in Ordnung, denn mehr wollt Ihr nicht sein und mehr sollt Ihr auch gar nicht sein.

Nur, und jetzt kommt’s liebe Sinologiestudentinnen, wenn es im August wieder losgeht mit dem fußballerischen Alltag und die Ligen dieser Republik wieder Fahrt aufnehmen, dann ist es ja meist vorbei mit Eurer Fußballbegeisterung. Dann guckt Ihr die Fußballfans in der Bahn wieder voller Verachtung an, wie sie da singen und sich auf Spiele freuen oder über Siege jubeln. Vereinsfußball – wie abartig. Dann stört sie wieder; die Freude am Fußball. Denn dann ist es ja die Freude der anderen und das Gefühl, persönlich beleidigt zu sein, wenn Özil den Pass von Schweini wieder nicht gekriegt hat, ist vergessen.

Drum meine Bitte an all die Menschen, die jetzt, zu Recht, feiern: Erinnert Euch an dieses Gefühl, wenn im Januar bei -5°C eine Gruppe singender Fußballfans in Euren Bus einsteigt, rümpft nicht die Nase oder schüttelt den Kopf. Das sind genau die Kutten, die neben Euch gerade die deutsche Mannschaft feiern. Das sind genau die 15jährigen Ultras, deren Begeisterung ihr auf den Wiesen beim Public Viewing gerade herzallerliebst findet. Denn sie sind momentan, genau wie Ihr, für Deutschland. Ihre Begeisterung ist die selbe und das Gefühl, was sie gerade empfinden, kennt Ihr von gerade jetzt.

Nur später sind sie dann wieder Fußballfans. Und Ihr nicht. Und das ist völlig in Ordnung. Für uns. Ich hoffe, bald auch für Euch.

Ach und: Bitte bitte glaubt nicht alles, was Euch die Florian Königs und Steffen Simons dieser Welt über Fußball erzählen wollen, ok?

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