Meine Nacht als Verschwörungstheoretiker

"Es stimmt tatsächlich…"

Dennis neigte sich mit großer Miene zu mir über den Tisch. Nachdem er mir einen Zettel, auf dem er jetzt ca. eine Viertelstunde rumgekritzelt hatte, rüberschob, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und schaute mich mit diesem Blick an, den man nur von den richtigen Leuten im falschen Moment bekommt.

Seit Dennis all diese Bücher zum 11. September liest, konnte man mit ihm nicht mehr vernünftig etwas trinken gehen. Und nun auch heute wieder?

Ich bestellte mir bei der vorbeihuschenden Bedienung ein neues Bier, was sie mit einem aufmunternden Lächeln zur Kenntnis nahm. Sie zwinkerte mir im Weggehen mit einem Seitenblick auf Dennis zu. Hatte sie unser Gespräch mitbekommen? Egal. Was also war diese große Enthüllung, die mir nun, um halb zwei nachts, offenbart wurde? Dennis‘ einleitender Vortrag, den ich nur mit halben Ohr gehört hatte, drehte sich um allerlei Geheimbünde, die den 11. September geplant und ausgeführt hatten. Als Beweis für diese Freimaurer-Illuminaten-Kirche hatte ihm eine dieser abstrusen Rechnungen gedient. 11 sei immerhin eine Primzahl, die Quersumme aus 2001 sei 3 – ebenfalls eine Primzahl. Und 3 mal 3 könnte jedes Kleinkind zu 9 multiplizieren: 11.9.2001. Meine hochgezogenen Augenbrauen störten Dennis zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, so tief war er nun in seiner Welt.

"Hör doch auf mit dem Scheiß und lass uns gemütlich noch einen trinken." – war, was ich hätte sagen sollen.

"Na gut, zeig mal her.." war, was ich sagte.

Während ich den Zettel widerwillig zu mir zog, erklärte mir Dennis zum zweiten Mal, dass man die Mitglieder dieses ominösen Geheimbundes daran erkennen könne, dass die Buchstaben ihrer Namen, ersetzt man sie durch die entsprechenden Zahlen (A = 1, B = 2 usw.), in der Summe eine Primzahl ergeben würde. Und er war nun nach tagelanger Recherche auf ein Gründungsmitglied gestoßen.

Nagut. Ich war neugierig geworden. Er hatte mich. Ich schaute also auf den Zettel und konnte nicht glauben, dass Dennis das ernst meinte.

"Das kannst Du nicht ernst meinen." – so klar hatte ich ihn ob seiner Theorien noch nie vor den Kopf gestoßen.

Auf dem Zettel stand in großen Druckbuchstaben der Name "JESUS CHRIST". Er erklärte mir, dass diese Verschwörungen alle vom amerikanischen Kontinent ausgehen und man daher immer die englische Schreibweise für diese Art Untersuchungen nutzen müsste. Während ich mich noch wunderte, dass er das alles tatsächlich "Untersuchungen" nannte, erklärte mir Dennis unnötigerweise, dass die englische Schreibung von Jesus Christus eben Jesus Christ sei. Und die Zahlentsprechungen dieser Buchstaben ergäben 151 – ein Primzahl und eine hohe noch dazu. Und wenn man sich das mal überlege machte das auch wunderbar Sinn, denn wenn es einer nötig gehabt hätte einen Geheimbund zum Schutz für sich und seine Anhänger zu gründen, dann war das ja wohl der erste religiös Verfolgte der Neuzeit – Jesus.

"Und Du siehst Deine Argumentationslücken in dieser Theorie wirklich nicht?" – war, was ich hätte sagen sollen.

"Aha…" war, was ich sagte.

Gedankenversunken starrte ich auf den Zettel. Während Dennis anfing mir einen langen Vortrag zu halten, wie es dazu kam, dass die christliche Weltverschwörung ausgehend von Jesus zu Macht kam und deren Geschichte irgendwann in der Vortäuschung der Anschläge vom 11.September mündete, suchte ich fieberhaft einen Ausweg aus der anstehenden Diskussion. Dennis war mir lange genug auf den Sack gegangen mit diesen verschwurbelten Gedanken.

Ich schrieb meinen Namen unter den von Jesus und rechnete die Quersumme aus – 146. Mist. Dennis Name ergab 134. Ich fing langsam an, mich selbst dafür zu hassen, dass er mich jetzt schon soweit hatte, dass ich mit ihm nachts in Bars rumsaß und blöde Rechenspielchen mit Namen machte, die absolut nichts aussagten. Die Frage, warum es denn ausgerechnet die Quersumme sein musste, stellte ich ihm besser nicht. Ich wollte den Vortrag nicht unnötig verlängern. Immerhin war er mittlerweile bei den Kreuzzügen angekommen und ich hatte gute Chancen vor sieben Uhr morgens hier raus zu sein.

Dann plötzlich musste ich grinsen. Ich hatte die Lösung. Ich rechnete es schnell nach und schob dann den Zettel wieder zu Dennis mit der beiläufigen Bemerkung, ich hätte soeben ein weiteres Mitglied gefunden. Er stockte kurz und nahm den Zettel. Sekunden später wechselte die Farbe seines Kopfes in ein dunkles Rot und ich bin mir sicher, dass er mich ziemlich laut zur Sau gemacht hätte, wären wir bei ihm zu Hause und nicht in einer Bar gewesen. So knüllte er den Zettel zusammen, warf ihn mir wortlos vor die Füße und stürmte aus dem Lokal.

Ich grinste, bestellte die Rechnung und konnte endlich nach Hause.

Ich habe Dennis nun schon drei Jahre nicht mehr gesehen. Den Zettel habe ich noch. Und jedes Jahr am 11. September schaue ich kurz drauf und erinnere mich, wie ich damals Dennis lückenlos hergeleitet habe, dass SCOOBY DOO, dessen Quersumme 113, also eine Primzahl ist, Bestandteil der großen Weltverschwörung sei, die Jesus damals ins Leben gerufen hat.

Manchmal bin ich gerne ein Arsch.

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