Still
Ich sollte still sein. Ich lebe in Deutschland. Als weißer Europäer – männlich. Ich habe einen guten Job, darf zur Universität und habe so ziemlich alle Freiheiten, die ein Mensch auf dieser Erde haben kann. Ich habe ein Auto, kann mir das Technikspielzeug leisten, was ich gerne hätte, kaufe mein Entertainment online und habe Zugang zu mehr Informationen als je zuvor in meinem Leben.
Ich sollte still sein. Unter den gleichen Umständen ohne weiße Hautfarbe wäre der einzige Kontakt mit den Nazis meiner Stadt wohl nicht auf Pöbeln auf Bahnhöfen beschränkt. Auch bei dem nur zweimaligen Rennen vor diesen Gehirnspendern, wäre es mit anderen Pigmenten in der Haut wohl bisher nicht geblieben.
Ich sollte still sein. In Deutschland ist mein Leben tatsächlich noch etwas wert. Ich könnte in einem Land leben, in dem ich dafür getötet werden könnte, dass meine Eltern mir beigebracht haben, auf den falschen Gott zu vertrauen. Ich hätte in einer Gegend geboren werden können, wo allein die Zugehörigkeit zum falschen Clan oder Stamm ein Todesurteil bedeuten kann. In würde nicht darüber nachdenken, was ich zum Mittag esse, sondern ob. Ich würde nicht in die Kaufhalle gehen und mich fragen, ob ich Bier oder Wein für heute Abend hole, sondern hoffen, auf dem Weg zum einzigen Brunnen nicht erschossen zu werden.
Ich sollte still sein. In den meisten Gegenden dieses Planeten beschäftigt die Mitgliedschaft in Online Communities niemanden, denn die Menschen haben mit ihren realen Gemeinschaften genug Sorgen. Die vollklimatisierten Supermärkte unserer Einkaufspassagen sind in diesen Ländern so fern wie für uns der Gedanke an Leben im All. Die Sorge über die Überwachung existiert dort nicht, ein Wolfgang Schäuble verliert seine bedrohliche Aura sehr schnell, wenn es um das eigene Leben geht.
Ich sollte still sein. Aber ich möchte es nicht. Ich möchte nicht still sein, nur weil 90% der Weltbevölkerung über meine Sorgen lachen würden. Engagement. Hilfe. Änderung. Viele Ideen und Ideale – wenig Möglichkeiten. Und trotzdem möchte ich es versuchen. Mit Hilfe und den technischen Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen.
… mehr heute abend.